Werkbericht anlässlich der Realisierungen auf dem Kalvarienberg und in der Evangelischen Kirche in Bad Laer und im Museum Industriekultur der Stadt Osnabrück durch das "open string quartet" |
Mauricio Kagel hat 1958 bemerkt, dass die Wirkung und Bedeutung von Musik sich nicht aus einer stummen Partitur, sondern dem Gesamt einer Aufführung ergibt: "Instrumentalisten sind in doppeltem Sinn Spieler – sie spielen Musik und eine Rolle" (Kagel zu "sur scéne", UA Bremen 1962 1*) Was als Geburtsstunde des "instrumentalen Theaters" in die akademische Musikgeschichtsschreibung eingegangen ist, war in Wirklichkeit die offizielle Verabschiedung vom Berufsbild des monadischen Komponisten und der Adorno’schen Philosophie, derzufolge die Bedeutung und Wirkung von Musik in der Partitur sedimentiert ist. Welcher Komponist auch immer aber über sein Schaffen ins Sinnieren geriet, das in großen Stapeln ur- aber anschließend kein zweites Mal aufgeführt auf Halde lag, musste sich der bitteren Erkenntnis anschließen, dass die Partitur weit weniger wichtig für Rezeption, Erfolg und Überlebenschancen des Werks ist als die Umstände der Aufführung. Ein Werk, das nur im Auftrag irgendeiner Institution uraufgeführt und anschließend ad acta gelegt wird ohne auf dem Markt als Ware zu zirkulieren, ist eine (vor-bürgerliche) Dienstleistung und kein Opus, wie es die bürgerliche Gesellschaft im 18. Jahrhundert gewollt hat. Insofern ist ein Teil der heutigen Avantgarde in die Epoche feudaler Musikproduktion regrediert. Der Siemens-Preisträger Reinhold Brinkmann hat sich in einem 2006 Buch geradezu demonstrativ zu dieser Philosophie bekannt. 2*) |
Es hat im vergangenen halben Jahrhundert von Kagels Ansatz abgesehen zahlreiche Maßnahmen gegen solcherlei historische Regression gegeben: Unter der Bezeichnung "Angewandte Komposition" hielt die Musikpsychologie Einzug ins Denken und Schaffen, beispielsweise bei audiovisueller Musik (Filmmusik, VideoKunst, Programmmusik, Multimedia-Opern). Das Publikum, das bezahlen und konsumieren wollte, wurde gegen seinen Willen "aktiviert", beispielsweise bei den vielen Varianten von "Musik für ein Haus". Alle Arten offener Formen wurden vorgeschlagen und die ausführenden Musiker sehr zu deren Schrecken "emanzipiert". Und es wurden die technischen Vorrichtungen, die Klänge erzeugen können, als Kunstobjekte geformt, um vom Publikum zeitlich unbegrenzt begangen zu werden. |
Beim Zyklus "ferner gesang" hat Willem Schulz 18 Miniaturen von durchschnittlich 6 Minuten Dauer komponiert, die, betrachtet man die Partitur, zunächst systematisch alle Dimensionen des klassischen Streichquartetts ausloten. Solche sind neben den allgemein gebräuchlichen Streich- und Zupfaktivitäten beispielsweise das Holzreiben mit der Hand oder das percussive Bearbeiten des Geigenkastens. Kompositionstechnisch wird eine aus minimalistischen Zeitverschiebungen resultierende Polyphonie bevorzugt, die immer wieder abrupt unterbrochen oder von der "Erinnerung an eine Melodie" kommentiert wird. Die Komposition verlangt aber zusätzlich, dass unter Berücksichtigung des Aufführungsortes eine gezielte Auswahl aus den Stücken des Zyklus getroffen wird und die ausgewählten Stücke in diesen Ort hineingestellt werden. Dabei spielt eine entscheidende Rolle, dass sich die vier Streicher/innen durch den Raum bewegen können und an akustisch und choreografisch bedeutsamen Punkten positionieren lassen. Die Ausführenden müssen sich somit intensiv mit den Aufführungsorten auseinander setzen. Es gilt, hierbei unterschiedliche Bedeutsamkeiten von Orten zu erfassen und diese mittels eines der 18 Stücke zu interpretieren. |
Es versteht sich fast von selbst, dass ein üblicher Konzertsaal den Ausführenden von "ferner gesang" relativ wenige Anregungen für eine Aufführung bietet. Nicht von ungefähr wurden für die seit der Uraufführung am 12. Mai 2007 gewählten Aufführungen Orte wie der Wolfenbütteler Kulturbahnhof, die Dissener Sandsteinvilla, das Schloss Bad Iburg, der Kalvarienberg Bad Laer oder das Museum Industriekultur in Osnabrück gewählt. Im September 2007 folgen Aufführungen in einer Fabrik, einem Kloster und einer Stadthalle. |
Ein anderes Beispiel ist die Rhythmusstudie "raster", die in einem Werkraum zu zahlreichen von einer Dampfmaschine getriebenen Schleif-, Fräß- und Bohrmaschinen ausgeführt wurde und die visuelle Unruhe der den Raum kreuzenden Antriebsriemen als musikalischen Stimulans interpretierte (Abbildung 2). Bei einer anderen Aufführung wurde dies Stück in einen Hof verlagert, der an einen Parkplatz grenzte. Die rhythmische Polyphonie erhielt hierbei eher den Charakter der Hektik einer betonierten Fläche, die von Menschen zügig durchquert werden sollte, da sie selbst nichts weiter als sich selbst zu bieten hatte. |
Wolfgang Martin Stroh |