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POSITIONEN, Beiträge zur Neuen Musik, Nr. 72, August 2007

Wolfgang Martin Stroh

"ferner gesang" für Streichquartett von Willem Schulz

Werkbericht anlässlich der Realisierungen auf dem Kalvarienberg und in der Evangelischen Kirche in Bad Laer und im Museum Industriekultur der Stadt Osnabrück durch das "open string quartet"

Mauricio Kagel hat 1958 bemerkt, dass die Wirkung und Bedeutung von Musik sich nicht aus einer stummen Partitur, sondern dem Gesamt einer Aufführung ergibt: "Instrumentalisten sind in doppeltem Sinn Spieler – sie spielen Musik und eine Rolle" (Kagel zu "sur scéne", UA Bremen 1962 1*) Was als Geburtsstunde des "instrumentalen Theaters" in die akademische Musikgeschichtsschreibung eingegangen ist, war in Wirklichkeit die offizielle Verabschiedung vom Berufsbild des monadischen Komponisten und der Adorno’schen Philosophie, derzufolge die Bedeutung und Wirkung von Musik in der Partitur sedimentiert ist. Welcher Komponist auch immer aber über sein Schaffen ins Sinnieren geriet, das in großen Stapeln ur- aber anschließend kein zweites Mal aufgeführt auf Halde lag, musste sich der bitteren Erkenntnis anschließen, dass die Partitur weit weniger wichtig für Rezeption, Erfolg und Überlebenschancen des Werks ist als die Umstände der Aufführung. Ein Werk, das nur im Auftrag irgendeiner Institution uraufgeführt und anschließend ad acta gelegt wird ohne auf dem Markt als Ware zu zirkulieren, ist eine (vor-bürgerliche) Dienstleistung und kein Opus, wie es die bürgerliche Gesellschaft im 18. Jahrhundert gewollt hat. Insofern ist ein Teil der heutigen Avantgarde in die Epoche feudaler Musikproduktion regrediert. Der Siemens-Preisträger Reinhold Brinkmann hat sich in einem 2006 Buch geradezu demonstrativ zu dieser Philosophie bekannt. 2*)

Es hat im vergangenen halben Jahrhundert von Kagels Ansatz abgesehen zahlreiche Maßnahmen gegen solcherlei historische Regression gegeben: Unter der Bezeichnung "Angewandte Komposition" hielt die Musikpsychologie Einzug ins Denken und Schaffen, beispielsweise bei audiovisueller Musik (Filmmusik, VideoKunst, Programmmusik, Multimedia-Opern). Das Publikum, das bezahlen und konsumieren wollte, wurde gegen seinen Willen "aktiviert", beispielsweise bei den vielen Varianten von "Musik für ein Haus". Alle Arten offener Formen wurden vorgeschlagen und die ausführenden Musiker sehr zu deren Schrecken "emanzipiert". Und es wurden die technischen Vorrichtungen, die Klänge erzeugen können, als Kunstobjekte geformt, um vom Publikum zeitlich unbegrenzt begangen zu werden.

Beim Zyklus "ferner gesang" hat Willem Schulz 18 Miniaturen von durchschnittlich 6 Minuten Dauer komponiert, die, betrachtet man die Partitur, zunächst systematisch alle Dimensionen des klassischen Streichquartetts ausloten. Solche sind neben den allgemein gebräuchlichen Streich- und Zupfaktivitäten beispielsweise das Holzreiben mit der Hand oder das percussive Bearbeiten des Geigenkastens. Kompositionstechnisch wird eine aus minimalistischen Zeitverschiebungen resultierende Polyphonie bevorzugt, die immer wieder abrupt unterbrochen oder von der "Erinnerung an eine Melodie" kommentiert wird. Die Komposition verlangt aber zusätzlich, dass unter Berücksichtigung des Aufführungsortes eine gezielte Auswahl aus den Stücken des Zyklus getroffen wird und die ausgewählten Stücke in diesen Ort hineingestellt werden. Dabei spielt eine entscheidende Rolle, dass sich die vier Streicher/innen durch den Raum bewegen können und an akustisch und choreografisch bedeutsamen Punkten positionieren lassen. Die Ausführenden müssen sich somit intensiv mit den Aufführungsorten auseinander setzen. Es gilt, hierbei unterschiedliche Bedeutsamkeiten von Orten zu erfassen und diese mittels eines der 18 Stücke zu interpretieren.

Es versteht sich fast von selbst, dass ein üblicher Konzertsaal den Ausführenden von "ferner gesang" relativ wenige Anregungen für eine Aufführung bietet.


Abbildung 1 "holz.metall"

Nicht von ungefähr wurden für die seit der Uraufführung am 12. Mai 2007 gewählten Aufführungen Orte wie der Wolfenbütteler Kulturbahnhof, die Dissener Sandsteinvilla, das Schloss Bad Iburg, der Kalvarienberg Bad Laer oder das Museum Industriekultur in Osnabrück gewählt. Im September 2007 folgen Aufführungen in einer Fabrik, einem Kloster und einer Stadthalle.
Zwei Beispiele aus dem Museum Industriekultur können das Kompositions- und Realisationsprinzip von "ferner gesang" verdeutlichen: Im Ausstellungsbereich, der eine Stahlgießerei zeigt, werden die Musikinstrumente wie "Werkstücke" behandelt. Die zugrunde liegende Komposition heißt "holz.metall" und ist eine Klangstudie zur Tatsache, dass Streichinstrumente "aus Holz und Metall bestehen". Die Aufführung dieses Stücks in der Stahlgießerei interpretiert diesen Ort als "Ort der Schwerarbeit" und macht deutlich, dass auch Musikmachen Arbeit, wenn nicht sogar Schwerarbeit sein kann (Abbildung 1). –

Ein anderes Beispiel ist die Rhythmusstudie "raster", die in einem Werkraum zu zahlreichen von einer Dampfmaschine getriebenen Schleif-, Fräß- und


Abbildung 2 "raster"

Bohrmaschinen ausgeführt wurde und die visuelle Unruhe der den Raum kreuzenden Antriebsriemen als musikalischen Stimulans interpretierte (Abbildung 2). Bei einer anderen Aufführung wurde dies Stück in einen Hof verlagert, der an einen Parkplatz grenzte. Die rhythmische Polyphonie erhielt hierbei eher den Charakter der Hektik einer betonierten Fläche, die von Menschen zügig durchquert werden sollte, da sie selbst nichts weiter als sich selbst zu bieten hatte.

Die Aufführungen von "ferner gesang" werden vom Publikum nicht als Happening wahrgenommen. Es wird eigentlich nie gelacht. Die Partitur ist viel zu dicht und die Musik viel zu differenziert, als dass sich ein plakativer Eindruck einstellen könnte. Anstelle einer "offenen Form" wird die offene Interpretation der Aufführung durch die Ausführenden mittels festgelegter Materialien von Webern’scher Strenge praktiziert. Die Inszenierung soll Ergebnis einer Interpretation der Bedeutung des Ortes mit Hilfe der Musik sein und kein Versuch, ungewohnte oder abschreckende Klanggestalten einem zahlenden Publikum schmackhaft zu machen. "ferner gesang" ist auch kein instrumentales Theater im Sinne Mauricio Kagels, denn weder werden Rituale entlarvt oder tiefenpsychologisch ausgeleuchtet, noch wird ein Lacheffekt , eine Schockwirkung oder Provokation intendiert. Das Publikum wird eher liebevoll behandelt, was es den Ausführenden auch durch "folgsames" Verhalten dankt, indem es die realen und imaginären Klang-Räume zusammen mit den Musiker/innen durchschreitet. Da der "ferne gesang" semantisch mit Erinnerungsfetzen an Musik, die Hörgewohnheiten eines Bildungsbürgers entgegenkommen, arbeitet, wird der archetypische Untergrund des bildungsbürgerlich - deutschen Kulturraumes nicht verlassen.

Wolfgang Martin Stroh

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1*)
Auch in Dieter Schnebel (Hg.): Mauricio Kagel. Musik Theater Film. Dumont Verlag, Köln 1970, S. 55.





2*)
Reinhold Brinkmann: Vom Pfeifen und von alten Dampfmaschinen. Aufsätze zur Musik von Beethoven bis Riehm. Zsolnay Verlag, Wien 2006. Einleitung.